GOR '97
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  »Let a thousand proposals bloom« ­ Mailing-Listen als Forschungsquelle

Jeanette Hofmann

Methode: Inhaltliche Analyse von Mailing-Listen in einer Fallstudie

Die Analyse von Mailing-Listen, die kollektive Diskussionen und Entwicklungsprozesse dokumentieren, kann Befra-gungen der Teilnehmer nicht ersetzen. Sie bietet aber neuartige Einsichten in computervermittelte Kommunikations- und Kooperationszusammenhänge.

In diesem Beitrag geht es darum zu zeigen, wie Mailing-Listen als Forschungsquelle genutzt werden können. Dabei dient die Entwicklung von »Ipv6«, einem Internet-Protokoll, als Beispiel. Der Entwicklungsprozeß ist ein öffentlicher Vorgang, der überwiegend im Internet via Mailing-Listen stattfindet. Formal betrachtet, bilden Mailing-Listen den eigentlichen Arbeitsort in der Produkt-entwicklung. Alle wesentlichen Abstimmungsprozesse finden im Netz statt. Gelegentliche Face-to-Face-Meetings der beteiligten Entwickler dienen lediglich als »breitbandigere« Unterstützung der schriftlichen Zusammenarbeit. Die Mehrzahl der Mailing-Listen ist elektronisch archiviert, so daß sich auch zurückliegende Debatten nachvollziehen lassen. Wer sich einmal für ein paar Stunden in ein Archiv von Mailing-Listen verloren hat, weiß um die eigentümliche atmosphärische Dichte, die sich beim Nachlesen der kollektiven Denkvorgänge, der kleinen und großen Kontroversen vermittelt.

Als Forschungsquelle unterscheiden sich Mailing-Listen von Befragungen in mehrfacher Hinsicht. Zunächst vermitteln sie im Gegensatz zum eigens arrangierten Interview den Eindruck einer authentischeren Situation. Die Entwickler reden untereinander in der ihnen eigenen Fach- und Schriftsprache, die für Außenstehende weitgehend unverständlich ist. Zweitens: Während mit Hilfe von Befragungen üblicherweise individuelle Perspektiven von Vorgängen ermittelt werden, bieten Mailing-Listen eine kollektive Sicht der Dinge. Sachverhalte oder Ereignisse, deren Bedeutung im Interview als monologische Erzählung dargeboten wird, präsentiert die Mailing-Liste als kontroverse Diskussion. Unterschiedliche Sichtweisen und Interpretationen, die sich bei Befragungen erst durch mehrere Gesprächspartner offenbaren, zeigen sich auf Mailing-Listen gewissermaßen interaktiv. Dies geschieht freilich um den Preis, daß die Positionen der Beteiligten immer als strategische Interventionen ­ bezogen auf die spezifische Öffentlichkeit der jeweiligen Mailing-Liste ­ vorgetragen werden.

Für die Untersuchung der Entwicklung von Netztechnik im Internet bedeutet das, daß die Entstehung von Übertragungsprotokollen als komplexes Zusammenspiel technischer und kultureller Elemente sichtbar wird. Nahezu jede Entscheidung ist umstritten, und die gelegentlich aufflammenden »Glaubens-kriege« öffnen den Blick auf die ästhetische, politische und soziale Dimension technischer Kontroversen. Das Lesen von Mailing-Listen kann Befragungen freilich nicht ersetzen. Es bietet eher eine zusätzliche und neuartige Form der Einsichtnahme in (computer-vermittelte) Kommunikations- und Kooperationszusammenhänge.

Dr. Jeanette Hoffmann ist Politikwissenschaftlerin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Projektgruppe »Kulturraum Internet«, einem interdisziplinären Kooperationsprojekt des Wissenschaftszentrum Berlin und der Technischen Universität Berlin.
E-Mail: jeanette@medea.wz-berlin.de

 


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